„Und wenn Worte aufhören einen Sinn zu ergeben,
muss man Gefühle eine Geschichte zu Ende erzählen lassen.“
Man kann nur über das Schreiben,
was man selbst erlebt hat. Lina streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre
Hände sind kalt, sie zittert. Der Weg nach Hause kommt ihr unendlich lang vor.
Die Straßen sind sich in der Nacht so ähnlich. Graue Häuser reihen aneinander,
davor graue Vorgärten, alles unter einem pechschwarzen Himmel und bedeckt von
einer Stille, die nur einsame Sirenen in der Ferne durchbrechen. Schemenhafte
Erinnerungen bahnen sich in ihr Bewusstsein – eine Hand an ihrem Rücken, ein
Lächeln, eine unbestimmte Sehnsucht. Und diese Augen, diese Augen von einer
unergründlichen Tiefe und doch zugleich einer fast familiär anmutenden Nähe.
Lina stolpert in der Dunkelheit, fängt sich unsanft mit den Händen am Bordstein
auf. Die plötzlich unerwartete Realität trifft sie hart. Es ist wirklich
passiert. Das hier, dieser Moment, kein Traum. Ihre Handflächen brennen, in den
Abschürfungen sammelt sich langsam ihr Blut. Lina seufzt. Sie steht auf, klopft
den Staub aus ihrer Jeans. Ihr Blick wandert in den dunklen Nachthimmel. Das
Licht der Stadt ist so hell, dass sich die Sterne am Firmament nur erahnen
lassen. Noch immer fühlt sich alles so surreal an. Als wären die letzten
Stunden einer ihrer wirren Träume gewesen, die sie jede Nacht in so großer Zahl
heimsuchen. Lina weiß nicht ob das Gefühl in ihrer Brust Glück ist – es ist nicht greifbar. Langsam setzt sie ihren Heimweg
fort. Ihre Gedanken lassen das Geschehene Revue passieren. Oft hatte Lina
gedacht, sie hätte das Leben verstanden, das große Geheimnis durchblickt. Jedes
Mal war sie eines besseren belehrt worden. Dieses Mal verstand sie gar nichts.
Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie, dass sie nichts
verstehen wollte. Was gerade mit ihr passierte, das war keine Sache des
Verstands, kein kognitiver Vorgang, keine Logik. Es war Gefühl. Nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Sie war berauscht von Wahrnehmungen, die sie so zuvor
nie erlebt hatte. So sehr sie versuchte einen Anfang zu rekonstruieren, es
gelang ihr nicht einen Ausgangspunkt auszumachen für das Gefühl der
Unendlichkeit, das sie in jeder Faser ihres Körpers durchdrang. Er hatte die
schönste Augen in die sie jemals geblickt hatte und das nicht, weil ihre Farbe
so besonders, oder der Ring um seine Pupille so einzigartig waren, sondern weil
sie etwas ausstrahlten, von dem Lina nicht einmal bewusst gewesen war, dass sie
es in ihrem Leben vermisste. Der Nachtwind schlug ihr kühl entgegen als sie
endlich in den Hof vor ihrem Haus
einbog. Als sie an diesem Abend losgezogen war, hatte sie eine ausgelassene
Feier erwartet und nicht das. Sie
war die Stufen zum Club hinabgestiegen, hatte ihren Blick über die
ausgelassenen Menschen schweifen lassen und war zur Bar gegangen. Der Alkohol –
ein wesentlicher Bestandteil dieses Abends, der jetzt zu Hause ihr Bett in
ungleichmäßigen Kreisen drehen ließ und jegliche logische Nachvollziehbarkeit
ihrer Gefühle ausgeschaltet hatte – schmeckte bittersüß. Ein Geschmack, der für
Lina das Leben in seiner Eigenartigkeit am besten beschrieb. „Man darf sich nie
zu sicher sein“, hatte ihr Großvater immer gesagt, „Hinter jeder Ecke könnte
das Schicksal auf einen warten.“ Aber Jonas stand hinter keiner Ecke, sondern
direkt neben ihr. Er lächelte sie an, er sprach mit ihr. Auch wenn die beiden
keine gemeinsame Geschichte verband, waren sie einander nicht unbekannt. Umso
außergewöhnlicher erscheint das, was sich an jenem Abend zwischen den beiden zu
entwickeln schien. Der Ursprung dieser Gedanken und vor allem Gefühle blieb Lina
ein Rätsel – war es eine Berührung, ein Wort oder ein Lächeln gewesen? Eine
stille Übereinkunft, dass man sich füreinander interessierte? Aber es war mehr
als bloßes Interesse. Es war eine tiefe innere Anziehung, eine seltsam fremde
Macht, die sie ergriffen zu haben schien. Keine Anziehung, die sich leicht
durch Alkoholkonsum und das schummrige Licht hätte erklären lassen. Das was da
passiert war, war tiefer. Es war fester in ihre Seele und ihr Herz eingebrannt
als ihr lieb war. Es tat weh, körperlich. Das Gefühl zerdrückte ihr förmlich
den Brustkorb. Es ergriff ihr Herz und drückte mit aller Kraft zu. Einzig und
allein sei Blick schien sie von dem Schmerz zu befreien. Auch Jonas schien zu
bemerken, dass das was gerade passierte, nicht normal war. Als Lina schließlich
gehen wollte, weil sie dieser Anziehung unmöglich länger widerstehen konnte,
folgte er ihr, obwohl die beiden sich bereits verabschiedet hatten. Der Drang
sie zu küssen überwältigte ihn, aber er war standhaft genug nicht nachzugeben. Ihm
war sofort bewusst gewesen, dass es von unabdingbarer Wichtigkeit war, diesmal
nichts falsch zu machen, zu überstürzen. Er ließ sie gehen.
Lina wachte auf, ihr Kopf benebelt
vom restlichen Alkohol, war ihr für einen kurzen Moment nicht bewusst, was Realität
und was Vorstellung gewesen war. Nur einen Moment nach dem Aufwachen schlug das
Gefühl erneut zu. Ihre Brust wurde schwer, ihre Atmung war so unregelmäßig, als
hätte sie einen Dauerlauf hinter sich. Die Sehnsucht nach ihm überwältigte
Lina. Sie fühlte sich krank, schwach und ein wenig jämmerlich. Ihr Verstand
versuchte ihr zu helfen, doch seine Bekundungen, wie lächerlich und infantil
ihre Gefühlsregungen waren, deprimierten Lina nur noch mehr. Sie rappelte sich
auf, schleppte sich ins Bad. Die Nachrichten auf ihrem Smartphone fügten sich
perfekt in das verwirrende Bild der letzten Nacht. Eine Mischung aus Texten an Jonas
und ihre Freundinnen, in denen sie versuchte zu erklären oder überhaupt erstmal
zu verstehen und zu begreifen, was mit ihr passierte. Auch die kalte Dusche
brachte ihr keine neue Erkenntnis. Es war als würde das alltägliche Leben an
ihr vorbeiziehen und sie würde es von außen betrachten. Die lärmenden Autos auf
der Straße, das Geräusch des fließenden Wassers aus der Leitung, das Knacken
der Dielen unter ihren Füßen – alles war so nah und gleichzeitig so fern. Es
war nichts passiert. Eigentlich war doch gar nichts passiert. Alles was sie
erlebt hatte, war Gefühl. Keine Handlung, keine Aktivität – alles war passiv und
doch zu bewegt. Ihre Gefühle fuhren im buchstäblichen Sinn Achterbahn. Und das
wegen einer Person, die sich doch eigentlich gar nicht kannten. Jonas würde
später sagen, dass er in Linas Augen Zuhause
gesehen hatte und Lina würde diese Aussage ungesehen unterschreiben. Doch jetzt
in diesem Moment, hier unter der Dusche am Morgen danach, da war alles was Lina
verspürte blanke Unsicherheit. Ihre Gedanken waren rastlos, nichts konnte sie
an diesem Tag beschäftigen. Alle aufgegriffenen Fäden führten letztendlich zu
ihm. Zu seinem Lächeln, seine Augen, seinem weichen Haar, in das sich ihre Hand
in einem unvorsichtigen Moment verirrt hatte. Das Glück, das Lina verspürte
fühlte sich verboten an. Sie hatte das Gefühl diese Nähe, diese Intimität und
ja, diese besondere Verbindung nicht verdient zu haben. Zudem erschien ihr der
Zeitpunkt für dieses Gefühlschaos denkbar schlecht, war doch alles gerade
geordnet und in seinen Bahnen verlaufend von sich gegangen. Ihr Studium war zu
Ende, die Berufssuche zwar zermürbend und wenig ertragreich, aber noch nicht
vollständig frustrierend. Jonas war wie ein Meteorit auf ihrem kleinen, zwar
nicht perfekten aber dafür zufriedenstellend geordnetem Planeten eingeschlagen.
Er hatte Feuer und Apokalypse ausgelöst und Gefühle zum Vorschein gebracht, von
denen Lina nicht einmal zu träumen gewagt hätte. All die Filme und Bücher,
Hollywood und Disney – sie hatten die Liebe so verklärt und übertrieben, dass
ihr nicht bewusst gewesen war, dass diese gespielten und aufgeschriebenen
Gefühle doch auf einer Wahrheit beruhen könnten. Es war ihr nie in den Sinn
gekommen, dass die Liebe auch im wahren Leben so sturmhaft, intensiv und
unergründlich sein konnte, wie sie es in all den romantischen Komödien und
Dramen war. Schon allein deswegen erschienen ihr all ihre Gefühle und
ungestümen Gedanken surreal und unvollständig.
Lina wusste sich nicht zu helfen.
In den darauffolgenden Tagen versuchte sie sich in Realität, die banaler kaum
hätte sein können. Selbst einfache Aufgaben überforderten sie, ihre
Aufmerksamkeit und die Konzentration auf überhaupt irgendetwas waren gänzlich
unvorhanden. Sie versuchte so zu tun, als wäre sie ihm nie begegnet. Als wäre
alles immer noch, wie zu Beginn der Woche. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, ihr
war durchaus bewusst, dass sie sich selbst belog. Das was da in ihr und mit ihr
passierte, war mehr, viel mehr als sie zugeben wollte.
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